Während der Fußball-Weltmeisterschaft 2018 habe ich Ameisen die Ergebnisse der Spiele der Deutschen und später je ein Spiel pro Finalrunde „vorhersagen“ lassen: Für Details siehe „Germany’s Next Top Oracle„. Inspiriert hatte mich natürlich Krake Paul, aber der Grund, die Orakelei geordnet durchzuführen, war tatsächlich ein ernster:
Aberglauben und das Überinterpretieren von Anekdoten sind auch in Deutschland weit verbreitet. Der Nachbar hatte Haarausfall und konnte ihn mit einer Wundermedizin aus dem Shoppingkanal stoppen? Die Erkältung verschwand nach Einnahme von homöopathischen Globuli? Dann sind das wohl Wundermittel.
Die Erklärung, warum man solche Einzelereignisse nicht überbewerten sollte, ist eigentlich recht einfach: Viele solcher Ereignisse treten mit einer bestimmten Wahrscheinlichkeit auch ohne Intervention auf. Erkältungen zum Beispiel verschwinden in der Regel von selbst nach ein paar Tagen, Haarausfall verlangsamt sich manchmal, und selbst Brustkrebs wird der Körper erstaunlich häufig von selbst wieder los. Nur weil man vorher etwas Bestimmtes genommen hat, bedeutet das nicht, dass das Mittel tatsächlich die Krankheit geheilt hat. Man müsste sich vielmehr fragen, ob Patienten, die das Medikament nehmen, häufiger oder schneller geheilt werden als die, die es nicht nehmen. Was wir aber machen, wenn wir persönlich überzeugt sind, dass ein Mittel uns geholfen hat: Wir ignorieren all die, die das Mittel nicht geheilt hat. Und das sind die vielen tragischen Schicksale all jener, die vergeblich auf Wunderheilung hoffen.
Das Ameisenorakelexperiment soll helfen, zu verdeutlichen, was die einem Ereignis zu Grunde liegendenden Wahrscheinlichkeiten bedeuten und wie man selbst triviale Glückstreffer (lies: aus Wahrscheinlichkeiten zu erwartende Treffer) zu Wundern aufbauschen kann.
Die Zahlen sind dabei recht einfach. Wir nehmen einmal an, dass die Ameisen sich weder für Fußball interessieren, noch übersinnliche Kräfte besitzen. Stattdessen ist Ihre Prognose reiner Zufall. Wenn sie also zwei Wahlmöglichkeiten für zwei verschiedene Spielergebnisse haben, wählen ca. 50% der Ameisen einen Sieg von Mannschaft A und die restlichen 50% einen Sieg von Mannschaft B. Die Wahrscheinlichkeit jeder einzelnen Ameise, zufällig recht zu behalten, ist also auch 50%. Die Vorrundenspiele müssen nicht mit dem Sieg einer Mannschaft enden, sondern können auch unentschieden ausgehen. Es kommt also noch eine Dritte Wahlmöglichkeit hinzu, was die Wahrscheinlichkeit, richtig zu liegen, auf 33% reduziert (Sieg A, Unentschieden, Sieg B).
Der Einfachheit halber nehmen wir an, wir hätten das Experiment mit 432 Ameisen gestartet, die alle das Spiel Deutschland gegen Mexiko tippen. Wählen die Ameisen zufällig eines der drei möglichen Ergebnisse, sind das je Ergebnis 144 Ameisen. Egal, wie das Spiel ausgeht – 144 Ameisen werden richtig gelegen haben. Die übrigen werden eliminiert, aber diese 144 Ameisen bleiben im Rennen und können das nächste Spiel tippen (siehe Abbildung). Auf jedes der drei möglichen Ergebnisse fallen jetzt 48 Ameisen, und eine dieser drei Gruppen wird recht behalten. Das funktioniert natürlich auch dann, wenn in jedem Spiel der Underdog gewinnt!
Die Zahlen sind so gewählt, dass vor dem Finale noch genau zwei Ameisen überbleiben, wenn sie sich in jeder Runde wirklich jeweils genau gleich auf die möglichen Ergebnisse verteilen. Für das Finale gibt es nur zwei mögliche Ergebnisse – bei Gleichverteilung MUSS also eine der beiden den Weltmeister richtig vorhersagen. In der Berichterstattung stürzen wir uns nun also auf diese eine Ameise und lassen die restlichen 431 Ameisen, die jeweils mindestens einen Fehler gemacht haben, unter den Tisch fallen. Schon ist ein Wunderorakel geboren.
Was man also verstehen sollte: Die Wahrscheinlichkeit, ein Toporakel zu finden, steigt mit der Anzahl der Ameisen, die man zu Anfang einsetzt. Alleine über die Multiplikation der Wahrscheinlichkeiten von 1/27 (Vorrunde) und 1/16 (Achtelfinale bis Finale) sollte „jede 432te Ameise“ alle Spiele richtig tippen. Nur 432 Ameisen einzusetzen wäre dann aber doch mutig, denn die Ameisen sprechen sich ja nicht derart ab, dass immer jeweils die Hälfte auf die eine Mannschaft und die andere auf die andere Mannschaft setzt: sie wählen eben zufällig aus. Ich habe die Anzahl der Ameisen vor dem Turnier ermittelt, indem ich die zufälligen Tipps der einzelnen Ameisen simuliert habe. Das Ergebnis war, dass man bei deutlich weniger als 600 eingesetzten Ameisen eine hohe Chance hat, am Ende ohne Orakel dazustehen, während es nur noch wenig mehr Sicherheit bringt, mehr als 600 Ameisen einzusetzen, jedenfalls gemessen am nötigen Aufwand.
Dieses kleine Experiment soll dazu anregen, im Alltag mehr über Wahrscheinlichkeiten nachzudenken und etwas kritischer der Bedeutung außergewöhnlicher Ereignisse gegenüber zu werden. Auch sehr seltene Ereignisse werden eintreten, wenn man es nur häufig genug versucht. Am Beispiel der Ameisen kann das vielleicht jeder nachvollziehen, denn an tatsächliche Oraklelfähigkeit mittelamerikanischer Blattschneiderameisen wird hoffentlich niemand glauben?